Ein Kantor für die Gemeinde
zum 25. Todestag von Wolfram Zöllner (1931-1988)
Können Sie sich noch in das Lebensgefühl des Jahres 1988 versetzen? Viele, die heute als Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker Dienst tun, waren damals Kinder oder Heranwachsende, einige noch überhaupt nicht geboren. Und auch für die Älteren sind diese Zeiten weit entfernt.
Längst stehen die damaligen Akteure nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit. Doch sie haben Wichtiges geleistet. Deshalb ist es gut, das Gedenken an sie zu bewahren und neu zu beleben.
Wolfram Zöllner war als Direktor der Kirchenmusikschule Dresden in der Zeit von 1977 bis 1988 einer der führenden Kirchenmusiker Sachsens. Zahlreiche Studierende wurden durch seine Persönlichkeit wesentlich geprägt und verdanken ihm viel.
1931 geboren, studierte er an der Kirchenmusikschule Halle und legte das A-Examen ab. Danach war er mehrere Jahre im selben Institut als Assistent des Direktors Eberhard Wenzel tätig, bevor er die Kantorenstelle an der Laurentiuskirche Halle übernahm. Er wurde Dozent an der Kirchenmusikschule Halle und schließlich zum Landeskirchenmusikwart der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen berufen – zu einer Tätigkeit, die der des Landeskirchenmusikdirektors bei uns entspricht.
Nach dem Weggang von Dr. Christoph Albrecht als Kantor an die Berliner Marienkirche im Jahre 1976 musste das Direktorat der Dresdner Kirchenmusikschule neu besetzt werden. Damals wurde eine solche Stelle nicht ausgeschrieben, sondern – nach Anhörung der Dozenten und Studierenden - eine geeignete Persönlichkeit berufen. Als ersten Kandidaten benannte das Landeskirchenamt Wolfram Zöllner. „Für seine Kandidatur sprechen vor allem sein einfallsreiches, lebendiges Musizieren in und mit der Gemeinde (Kantoreipraxis), seine Befähigung zu partnerschaftlichem Arbeits- und Leitungsstil, seine Offenheit für theologische und kirchenmusikalische Entwicklungen und seine ‚Breitenbegabung bis hin zu Handhabung einer Combo’.“
Diese Breite und Offenheit entsprechen der Grundüberzeugung Zöllners, „daß die Musik prinzipiell ein Ganzes, unteilbar und radikal sich Bewegendes und Entwickelndes ist. Die Kirchenmu-sik verlöre dieses Wesen, wenn sie sich gegenüber der neuen Musik, Beat und Folklore sperre.“ So äußert sich Zöllner in einem Zeitungsinterview zwei Monate nach seinem Amtsantritt in Dresden. Mit der Leitung der Kirchenmusikschule übernimmt er, wie alle seine Vorgänger, das Kantorenamt an der Versöhnungskirche.
Zunächst zeigt Zöllner, der an der Hallenser Laurentiuskirche keine Oratorien aufgeführt hatte, dass er die große Konzerttradition der Dresdner Ausbildungsstätte fortzuführen gewillt und in der Lage ist. Aufführungen der Matthäuspassion, zweier Kantaten sowie aller sechs Teile des Weihnachtsoratoriums bilden einen am Kirchenjahr orientierten Bachzyklus und prägen das erste Jahr seines Dresdner Dienstes. Doch bereits 1978 weicht er vom üblichen Programm ab und setzt neue Akzente. Der fünfteilige Zyklus Dreiklänge stellt jeweils ein Werk von Händel, eines von Haydn und ein Stück aus dem 20. Jahrhundert nebeneinander. Das Adventskonzert ist keine Oratorienaufführung, sondern ein fröhliches Miteinandermusizieren des Chores der Kirchenmusikschule, der Versöhnungskantorei Dresden, verschiedener Kurrenden und Instrumentalisten, bei dem auch die Gemeinde zum Mitsingen eingeladen ist.
Damit hat Zöllner wesentliche Linien seiner weiteren Konzerttätigkeit abgesteckt. In den folgenden Jahren macht er immer wieder durch klug überlegte, liturgisch stimmige und musikalisch interessante, ungewöhnliche Programme auf sich aufmerksam. Im Rahmen der Reihe „Musik in Dresdner Kirchen“ singen die Studenten der Kirchenmusikschule nicht nur in der Versöhnungskirche, sondern in zahlreichen anderen Kirchen der Stadt. Unvergessen bleibt das Konzert in der Versöhnungskirche zum Ehemaligentreffen der Kirchenmusikschule 1986, in dem Psalm 13, Psalm 23 und das Vaterunser von Franz Liszt, danach die Psalmensymphonie von Igor Strawinsky erklangen. Die Tenorpartie sang dabei Peter Schreier.
Im Mittelpunkt von Zöllners Wirken stand das Musizieren im Gottesdienst. Hier erwies sich seine große Kreativität als Komponist. Er war ein Meister der kleinen Form. Für die eben vorhandenen Sänger und Instrumentalisten schuf er schlichte, aber stets gediegene Sätze, die sehr oft unter Einbeziehung der Gemeinde erklangen. Mitunter schrieb er während der Predigt spontan Stimmen für einen Singspruch, der dann im gleichen Gottesdienst ohne Probe aufgeführt wurde. Die Studierenden sollten immer ein Notenheft bei sich haben, um eigene oder fremde Ideen sofort zu notieren.
Im Laufe der Zeit komponierte Zöllner eine Fülle von Bausteinen für die Liturgie, Liedsätze, Bibeltextvertonungen, Orgelbegleitsätze und Liedkantaten.
Große Verbreitung erfuhren seine 1988 bei der Evangelischen Verlagsanstalt veröffentlichten Advents- und Weihnachtsliedsätze zum Singen und Spielen in verschiedener Besetzung.
Zöllners partnerschaftlicher Leitungsstil sorgte für ein gutes Miteinander unter den Dozenten der Kirchenmusikschule. Auch die Studierenden behandelte er wie Kollegen und war gelegentlich ratlos, wenn sie sich nicht aus eigenem Antrieb dasjenige aneigneten, was ihnen noch fehlte. Verschultes Studium und permanenter Leistungsdruck waren nicht seine Sache.
In Wolfram Zöllners Amtszeit fielen wesentliche Veränderungen des Kirchenmusikstudiums. Schon damals ging es um die gewachsenen Erwartungen an die Kompetenz der Kirchenmusiker als Organisten, an ihre hohe Flexibilität und stilistische Breite, an differenzierte Gottesdienstgestaltung, an fachspezifische Tätigkeit als Kinderchorleiter, an den Umgang mit neuen theologischen Entwicklungen des Gemeindelebens. 1980 erarbeitete er eine Stellungnahme zum Ausbildungskonzept für B-Kirchenmusiker und kam zu dem Schluss, dass angesichts der gestiegenen Anforderungen die bis dahin praktizierte Koppelung des Kantorenberufs mit einem zweiten (Katechet, Verwaltungsmitarbeiter) nicht mehr zu verantworten sei. Erst nach der friedlichen Revolution 1989 konnte dies im Dresdner Kirchenmusikstudium umgesetzt werden.
1984 trat bei Wolfram Zöllner erstmalig eine Krebserkrankung auf. Nach einigen Monaten konnte er seinen Dienst wieder aufnehmen. Auf Grund wachsenden Arbeitsumfangs in beiden Gebieten und wegen seiner gesundheitlichen Situation fühlte er sich dem Doppelamt als Direktor und Versöhnungskantor nicht mehr gewachsen und gab 1985 den Kantorendienst auf. Im Februar 1988 trat die Krebserkrankung erneut auf und machte weiteren Dienst unmöglich. Täglich sangen Studierende an seinem Krankenbett und praktizierten damit, was er ihnen vorgelebt hatte: ein Musizieren, das dem Menschen zugewandt ist und ihn in seiner Situation heilsam berührt. Am 1. Juli 1988 starb Wolfram Zöllner.
Stefan Gehrt, damals Leiter der C-Ausbildung an der Kirchenmusikschule, hat den musikalischen Nachlass Zöllners mit großem Fleiß und Engagement gesammelt. Die Liste der Werke umfasst (handschriftlich) 32 Seiten. Eine Gesamtveröffentlichung kam leider bisher nicht zustande. Einzelne Werke wurden gedruckt, u. a. die Abendliedkombination Der Abend kommt/Bevor die Sonne sinkt/Angelangt an der Schwelle des Abends im Heft Sing, bet und geh auf Gottes Wegen (Strube Edition 1709).
Markus Mütze stellte den kompositorischen Nachlass Zöllners in seiner Diplomarbeit an der Hochschule für Kirchenmusik 2010 nach dem aktuellen Stand zusammen.
Es ist zu wünschen, dass diese musikalischen Kleinode wieder in den Blick kommen und erklingen. Gerade für kleiner werdende Gemeinden und Chöre liefern sie wertvolle Anregungen – nicht nur, sie aufzuführen, sondern Ähnliches selbst zu machen.
Als Wolfram Zöllner 1984 erkrankte, bat er mich, vertretungsweise seinen Chorleitungsunterricht an der Kirchenmusikschule zu übernehmen. Nie werde ich vergessen, wie er mir bei seiner Rückkehr in den Dienst sagte: „Ich habe mich erkundigt. Wir lassen es so; Sie machen den Unterricht weiter.“ Während der folgenden Jahre übertrug er mir auch Unterricht in anderen Fächern. Von 1985 bis 1988 durfte ich oft sein Gesprächspartner sein – im Dienstzimmer oder beim Spaziergang durch die Dresdner Heide. Trotz – oder vielleicht wegen – unserer Unterschiedlichkeit wuchs großes Vertrauen zwischen uns. Dass er mich als seinen Nachfolger gewünscht hatte, machte es mir leichter, sein Amt zu übernehmen. Mit großer Dankbarkeit denke ich an Wolfram Zöllner, einen ganz eigengeprägten, kreativen Kirchenmusiker und liebenswürdigen Menschen.
denken an ihn in großer Dankbarkeit und werden ihm ein treues, ehrendes Andenken bewahren.
Christfried Brödel