Bach und die Juden

Ein Text anlässlich der Ausstellung „Luther, Bach - und die Juden“ im Bachhaus Eisenach.

Johann Sebastian Bachs Passionen gehören zu den großen Meisterwerken, die menschliche Kunst hervorgebracht hat. So lange unsere Kultur besteht, werden sie als Gipfelpunkte der Musikgeschichte geschätzt werden.

Seit einiger Zeit aber muss sich Bach im Blick auf seine Johannes- und Matthäuspassion gegenüber massiven Angriffen verteidigen. Antijudaismus bzw. Antisemitismus heißt der Vorwurf. Grundlage sind die Passionsberichte, in denen immer wieder von „den Juden“ (sogar in der verschärfenden Form „Jüden“) die Rede ist, die die Hinrichtung Jesu betreiben und sich schließlich zu der Äußerung verstehen: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ [Mt. 27,25] Bach vertonte die biblischen Passionsberichte in ihrer für den damaligen Protestantismus alternativlos gegebenen Form, der Übersetzung Martin Luthers – derselben, die (mit geringen sprachlichen Korrekturen) noch heute in ungezählten evangelischen Gottesdiensten verlesen wird. Ob und in welchem Maße er einen Antijudaismus seiner Zeitgenossen teilte, lässt sich aus dieser Tatsache nicht erkennen. (Kirchenhistorische Forschung hat gezeigt, dass die evangelische Kirche seit dem Ende des 17. Jahrhunderts vor allem unter dem Einfluss von Luthers judenfreundlicher Schrift „Daß Christus ein geborner Jude sei“ (1523) stand und die antijüdischen Schmähschriften von 1546 erst Ende des 19. Jahrhunderts von den Antisemiten aus der Vergessenheit ans Licht geholt wurden [vgl. Johannes Wallmann, Die evangelische Kirche bastelt sich ihre Geschichte, Deutsches Pfarrerblatt Heft 5 / 2016, S. 252.].

Aus unserer Geschichte ist es verständlich und notwendig, dass wir besonders sensibel auf die Themen Antijudaismus und Antisemitismus reagieren.

JA, aus der biblischen Darstellung wurde Jahrhunderte hindurch eine spezifische Schuld der Juden am Tode Jesu abgeleitet und daraus die Begründung für eine gegenwärtige Verfolgung der Juden (was immer man dann unter diesem Begriff verstehen wollte) gewonnen. Seien wir ehrlich: Diese Begründung war willkommen, denn sie gab den Vorwand, sich das Eigentum von Juden anzueignen, sie mit besonderen Steuern zu belegen, ihre beruflichen Möglichkeiten einzuschränken, ihnen die Schuld an Seuchen oder Naturkatastrophen in die Schuhe zu schieben und nicht zuletzt an ihnen den vielen Menschen innewohnenden Drang zur Grausamkeit auszuleben – vermeintlich, ohne dabei Schuld auf sich zu laden, ja sogar im Bewusstsein, ein gottgefälliges Werk zu tun.

Gerade diese Tatsachen bilden ein Beispiel zur Passionsgeschichte. Sie zeigen, was Menschen anderen Menschen anzutun vermögen, wenn Hass und Verblendung sie leiten. Es ist absurd zu meinen, für den Verlauf des Prozesses gegen Jesus sei es – über die allgemeine politische Situation im römisch besetzten Lande hinaus – in irgendeiner Weise prinzipiell von Bedeutung, dass die aufgehetzte Volksmenge Juden und nicht Angehörige einer anderen ethnischen Gruppe (z. B. Germanen) waren. Wer in unserem Diskurs auf die rassische, religiöse oder kulturelle Identität der Handelnden Wert legt, leistet einem Denken Vorschub, das er zu bekämpfen meint oder vorgibt.

In der Kritik wird eine Denkfigur völlig ausgeblendet, in der eine viel tiefere Ursache für das in der Geschichte bis heute immer wieder zugefügte Leid liegt: die Haftung von Menschen für das, was deren Vorfahren einmal getan haben. Dies geschieht in mehreren Schritten: Zunächst werden Handelnde durch ein gemeinsames Merkmal charakterisiert, z. B. durch die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe: die Juden, die Türken, die Armenier. Dabei ist wichtig, dass sich das Merkmal auf nachfolgende Generationen überträgt. Sodann erfolgt die Identifikation dieses Merkmals mit dem in der Vergangenheit tatsächlich oder angeblich zugefügten Unrecht, als sei dieses Merkmal ursächlich oder zwingend damit verbunden. Im nächsten Schritt wird diese Zuordnung generalisiert: „Die sind alle so!“ Und schließlich meint man daraus das Recht oder gar die Verpflichtung ableiten zu können, sich an den Menschen „zu rächen“, die heute – viele Generationen später – jenes Merkmal tragen. Das ist ebenso unsinnig, als wollte man alle Menschen mit roter Haarfarbe zur Verantwortung ziehen, wenn ein Mörder rothaarig war.

Zurück zu Bach. Möglicherweise hat er die antijüdische Einstellung der Mehrzahl seiner Zeitgenossen geteilt. Möglicherweise lassen sich auch noch andere Meinungen und Verhaltensweisen Bachs finden, die uns heute frag- und kritikwürdig erscheinen. Doch mindert das nicht im geringsten seine einmalige Bedeutung als Komponist von Musik, die bis heute Menschen im tiefsten anzurühren vermag. Bach war ein überragender Mensch, aber Bach ist nicht unser Gott. Vor Gott ist er Mensch wie wir alle – mit allem, was dies bedeutet.

„Im Fall von Bachs Johannes-Passion kommt als besonderes Merkmal hinzu, daß der Part der Juden von Bach musikalisch und über diese musikalische Seite kompositorisch ausgesprochen pointiert ausgestaltet ist.“ [Peter von Osten-Sacken, Bachs Johannes-Passion in: Zutrauen zur Theologie. 60-FS f. Christof Gestrich. Hg. v. A.-K. Finde/J. Zehner Berlin 2000, S. 250-272]. Abgesehen davon, dass andere Komponisten des Barock (z. B. Keiser, Telemann) die Juden musikalisch noch viel schärfer charakterisiert haben: Hätte Bach vielleicht diese Passagen etwas langweiliger in Töne setzen sollen? Diesen Gedanken bis zum Ende zu verfolgen, heißt ihn ad absurdum zu führen. Man kann Bach nicht vorwerfen, dass er wie Bach komponierte. Wer kann sich anmaßen, dem Meister solche Ratschläge zu erteilen? Wer kann sich anmaßen, Bach dafür zu kritisieren, dass er – wie viele Generationen von komponierenden Kirchenmusikern vor und nach ihm – den Luthertext der Evangelien vertonte?

Bereits vor Jahren wurde ich in einem Pfarrkonvent, in den ich als Kirchenmusiker eingeladen war, gefragt, ob man angesichts der Worte „Sein Blut komme über uns ...“ die Matthäuspassion heute überhaupt noch aufführen könne. Ich habe erwidert, dass ich darin mindestes so lange kein Problem sähe, wie die Passionsgeschichte noch unverändert in der Bibel steht und in Gottesdiensten verlesen wird.

Tatsächlich denkt niemand daran, das Matthäusevangelium zu ändern. Viele Aussagen der Bibel bedürfen heute einer Kommentierung und Aktualisierung. Dies sollte auch in Bezug auf eine Schuld der Juden am Tode Jesu geschehen.

Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist nötig. Aber thematisieren wir das Richtige: nicht (nur) die Kritik am Vergangenen, sondern die heutigen Haltungen, die ein angemessenes Verständnis des Vergangenen keineswegs selbstverständlich machen. Die offene Benennung von Irrtümern und Verfehlungen auch berühmter Menschen ist notwendig; sie verhindert deren Vergötterung, schmälert aber nicht deren Leistungen und Verdienste. Das gilt für Bach ebenso wie für Luther.

Der Drang, Menschen als in jeder Hinsicht vorbildlich auf einen Sockel zu stellen, ist ein Bestreben, das heute viel stärker ausgeprägt ist als man in unserer säkularisierten, aufgeklärten Gesellschaft vermutet. Das christliche Bild vom allein durch Gottes Gnade gerechtfertigten Menschen bietet eine überzeugende Alternative.