Zum Tode von Prof. Hans-Joachim Rotzsch (1929-2013)

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Ich traure um Hans-Joachim Rotzsch, der mein Leben entscheidend geprägt hat und dem ich viel verdanke.

Als Heranwachsender lauschte ich mit atemloser Spannung den Rundfunkübertragungen aus der Thomaskirche Leipzig, in denen er regelmäßig als Tenorsolist auftrat. Besonders hat sich mir seine Gestaltung der Evangelistenpartie in den Bachschen Passionen eingeprägt. Noch heute halte ich sie für maßstabsetzend in ihrer Objektivität, die dennoch emotionale Beteiligung und Wärme einschließt.

Welchen Rang Hans-Joachim Rotzsch als Bachinterpret einnahm, zeigt sich in diesem Text von Hanns Eisler:

„[...] müssen wir oft Musikstücke komponieren, wo etwas berichtet wird, wo etwas erzählt wird. [...] Nun haben wir ein wunderbares Beispiel. Ich rede jetzt nicht vom religiösen Inhalt. (Ich bin einer der unreligiösesten Menschen der Musikgeschichte - ich interessiere mich nicht einmal für Religion, habe gar keine Beziehungen dazu.) Aber das sind eben großartige Dinge [...] - und in der Johannes-Passion ist ja wirklich das Schicksal eines leidenden und gemarterten Menschen drinnen. [...] Nun wissen Sie, daß der Bach tatsächlich den Bibeltext komponiert: „Jesus ging mit seinen Jüngern über den Bach Kidron; da war ein Garten, darein ging Jesus und seine Jünger.“ Das ist hochinteressant, und davon habe ich eine Menge gelernt - obwohl ich mir dessen nicht immer bewußt bin. [...] Also - zum Beispiel:

„Judas aber, der ihn verriet, wußte den Ort auch, denn Jesus versammelte sich oft daselbst mit seinen Jüngern.“ Was ist geschehen? Ganz hoher Tenor! Aber nicht der Bajazzo-Tenor; auch nicht der Tenor meines verehrten Freundes Dr. Seeger, der den Parteisekretär singt. Sondern er ist erst einmal so hoch und fängt schon so hoch an, daß er solchen Schmelz nicht kann. Wenn Sie das von einem Operntenor gesungen hören - na, ich kann Ihnen sagen, das ist ein wirklicher Baumfrevel, heißt das bei uns. Also, wir müssen schon einen Sänger anziehen wie Herrn Rotzsch in Leipzig. Sehen Sie, wie wir unterscheiden müssen: Einem wirklichen Operntenor nicht nur den Parteisekretär, sondern den Evangelisten auszuliefern, wäre ein reiner musikalischer Wahnsinn. [...]“

(Hanns Eisler, „Inhalt und Form“, Vortrag und Aussprache im Verband Deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler Berlin 1962, zitiert aus Hanns Eisler, Materialien zu einer Dialektik der Musik, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig 1973, S. 300-334, Zitat auf S. 322/323)

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Während meines Studiums in Leipzig lernte ich Hans-Joachim Rotzsch als begeisternden Leiter des Leipziger Universitätschores kennen. Als er mir nach einjähriger Mitgliedschaft eine der beiden musikalischen Assistentenstellen an diesem Chor übertrug, war das für mich eine Weichenstellung von großer Bedeutung. Ich bekam Gelegenheit, Chorliteratur aller Epochen mit einem leistungsfähigen Ensemble in Einzel- und Gruppenproben einzustudieren. Oftmals mussten solche Proben ohne Vorbereitung und vorherige Kenntnis der Stücke - häufig auch ohne Instrument - gehalten werden. Das war eine harte, aber erfolgreiche Schule.

Neben die Bewunderung seiner musikalischen Leistungen als Sänger und Dirigent trat die Freude über seine menschliche Freundlichkeit und Zuwendung. Vieles Interessante erfuhr ich am Rande. Rotzsch schenkte mir die drei Bände des Lehrbuchs der Chorleitung von Kurt Thomas. Unter seiner Leitung hatte er als Schüler des Musischen Gymnasiums in Frankfurt/Main gesungen. Wie ich erfuhr, ist mit dem folgenden Absatz der Knabensolist Hans-Joachim Rotzsch gemeint:

„Dabei können gelegentlich Einzelleistungen von ungeheurer klanglicher Schönheit und Ausdruckskraft entstehen, zumal die gut gebildete Knabenstimme an Mühelosigkeit der Höhe die Frauenstimme oft übertrifft. Wer es einmal erlebt hat, wird die Wirkung der von einem Knabensolo-Sopran gesungenen Worte des Engels in Bachs Weihnachtsoratorium nie vergessen, ebensowenig die der Koloraturarien in Glucks „Frühlingsfeier“ oder Schuberts „Hirt auf dem Felsen“, ebensowenig das von einem Jungen ausgeführte Altsolo in Schuberts „Ständchen“, welches sich vom Inhalt aus gesehen für Knabenstimmen viel besser eignet als für eine Frauenstimme und Frauenchor.“

(Kurt Thomas, Lehrbuch der Chorleitung, Bd. III, Fünfte Auflage, VEB Breitkopf & Härtel Musikverlag, Leipzig, 1954, III. Kapitel Besonderheiten des Knabenchores, S. 29)

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Unter Rotzschs Leitung als Thomaskantor erlebte ich tief bewegende Aufführungen der Bachschen Großwerke. Es war nie seine Sache, über den inneren Hintergrund seiner Interpretation zu sprechen oder klar formulierte Konzepte zu verkünden. Auf welche Weise die sehr geschlossenen, überzeugenden Wiedergaben entstanden, wird für immer sein Geheimnis bleiben. Eine scharf profilierte Aufführungspraxis konnte man bei ihm vermissen. Er musizierte aus seinem ursprünglichen Musikantentum heraus auf durchaus pragmatischer Grundlage. Doch seine Bachkantateneinspielungen mit dem Thomanerchor sind in ihrer inhaltsorientierten, uneitlen Haltung und mit ihrem musikantischen Schwung auch heute noch beeindruckende Tondokumente.

Über die Vorgänge um seinen Abschied von Thomaskantorat weiß ich zu wenig, um mir ein wirkliches Urteil bilden zu können. Zweifellos hat Rotzsch niemals jemandem schaden wollen, sondern stets das Beste für den ihm anvertrauten Chor gesucht - so, wie er es verstand. Wir haben die Entscheidungen, die sicher nicht leichtfertig getroffen wurden, zu respektieren.

Die große und unauslöschliche Dankbarkeit, die ich ihm gegenüber empfinde, wird von dem allen nicht berührt. Ich werde sein Andenken in meinem Herzen bewahren, so lange ich lebe.

Christfried Brödel