Zum Tode von LKMD Hans-Joachim Schwinger (1927-2013)

*

Noch vor Schluss des Jahres 2013 galt es von einer weiteren Persönlichkeit Abschied zu nehmen, die in meinem Leben eine wichtige, ja entscheidende Rolle gespielt hat. Am 3. Advent verstarb nach kurzer, schwerer Krankheit der ehemalige sächsische Landeskirchenmusikdirektor Hans-Joachim Schwinger. Auch um ihn traure ich, und auch ihm verdanke ich viel.

Hans-Joachim Schwinger ermöglichte mir den Berufswechsel in den kirchenmusikalischen Dienst. Nachdem ich bereits mehrere Jahre die Meißner Kantorei 1961 erfolgreich neben meiner Arbeit als Mathematiker geleitet hatte, zeigte sich, dass meiner musikalischen Entwicklung in dieser Konstellation enge Grenzen gesetzt waren. Auf der anderen Seite stand die Perspektivlosigkeit in meiner Tätigkeit als Mathematiker: ein Aufstieg war aus politischen Gründen nicht denkbar und im Kontext der DDR-Verhältnisse auch nicht wünschenswert. Insgesamt erwies sich die Dreifach-Belastung in Beruf, Kirchenmusik und Familie als deutlich zu hoch.

Hans-Joachim Schwinger erkannte die Lage und setzte sich für die Schaffung der Stelle eines Landessingwarts der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens ein, die ich dann übertragen bekam. Am 1. April 1984 wechselte ich in den kirchlichen Dienst. Einen ziemlich unbeholfenen Versuch, mich wenige Tage vorher zur Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit der DDR zu gewinnen, hatte ich erfolgreich abwehren können. Im Nachhinein weiß ich, dass es richtig war, die Tatsache der versuchten Anwerbung in meinem Institut und beim zukünftigen Arbeitgeber, der Kirche, öffentlich zu machen. Damals entsprang diese Haltung einem großen Gottvertrauen und dem Bewusstsein, nichts zu verbergen zu haben.

Als erstes waren die kirchenmusikalischen Prüfungen abzulegen. Schwinger sorgte dafür, dass alles völlig korrekt ablief. Mir wurde nichts geschenkt; und später bin ich ihm dankbar dafür gewesen.

Als Landessingwart hatte ich in Sachsen hin und her zu reisen, Gemeinden in Singabenden zum Singen zu begeistern, Singwochen zu halten, Unterricht im Liturgischen Singen in der theologischen Ausbildung zu geben - und vieles andere mehr. Als Wolfram Zöllner, der damalige Direktor der Dresdner Kirchenmusikschule, im September 1984 an Krebs erkrankte, bat er mich, seinen Chorleitungsunterricht zu übernehmen. Nach seiner Genesung ein Vierteljahr später blieb mir diese Aufgabe übertragen; außer Chorleitung unterrichtete ich noch Gemeindesingen und Partiturspiel. Als Zöllner 1988 starb, wurde ich zu seinem Nachfolger berufen.

Die bereits vorher ausgezeichnet verlaufende Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Schwinger, meinem Vorgesetzten, setzte sich daraufhin unter veränderten Bedingungen in ebenso guter Weise fort. Die Jahre bis zur Emeritierung Schwinger 1992 waren äußerst erfolgreiche, gute Jahre für die sächsische Kirchenmusik. Wir hatten eine Wohnung in Dresden auf der Arndtstraße, schräg gegenüber der Schwingerschen Wohnung, bekommen. So gab es einen „kurzen Dienstweg“, auf dem wir vieles sehr gut klären konnten.

Nach Schwingers Emeritierung - nach Wegfall der dienstlichen Unterstellung - verwandelte sich das Verhältnis in eine herzliche Freundschaft, in die Elisabeth Schwinger und meine Frau einbezogen sind. Sie dauert bis heute; und der Tod von Hans-Joachim Schwinger bedeutet auch für uns einen wirklichen Verlust. Wir werden allezeit an ihn in großer Dankbarkeit denken.

Am Tage seiner Beerdigung, dem 20. Dezember 2013, erschien in den Dresdner Neuesten Nachrichten ein Artikel aus meiner Feder, den ich hier einfüge.

Mit Hans-Joachim Schwinger ist am vergangenen Sonntag eine der prägenden Persönlichkeiten der sächsischen Kirchenmusik von uns gegangen.

1927 in Dresden geboren, trat Schwinger 1948 sein erstes Kantorenamt in Leisnig an. 1959 wurde er zum Kirchenmusikdirektor des Kirchenbezirks Leisnig ernannt. 1969 übernahm er das Kantorat in der St. Pauli-Kreuz-Kirchgemeinde im damaligen Karl-Marx-Stadt, wiederum verbunden mit der Aufgabe als Kirchenmusikdirektor. Als Landesobmann führte er das Kirchenchorwerk der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens ab 1974 bis zu seinem Dienstende. 1977 wurde er zum Landeskirchenmusikdirektor der sächsischen Landeskirche berufen. Dieses höchste kirchenmusikalische Amt hatte er bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 1992 inne.

Die nüchternen Angaben zur erfolgreichen Biographie eines Kirchenmusikers werden der Persönlichkeit Schwingers noch nicht gerecht. Er war ein Musiker von großer Ausstrahlung, der höchst effektiv, bestens organisiert arbeitete und die Menschen zum Singen zu begeistern wusste. Dankbar und mit Freude erinnern sich zahlreiche Sängerinnen und Sänger an das Musizieren mit ihm in der kontinuierlichen Chorarbeit oder während der von ihm geleiteten Singwochen in Buckow.

Der Übergang in das kirchenmusikalische Leitungsamt bedeutete für H.-J. Schwinger den weitgehenden Verzicht auf eigene musikalische Tätigkeit. Als Landeskirchenmusikdirektor leitete er noch den Buckower Singkreis; doch seine eigentliche Arbeit bestand darin, die Kirchenmusik in der Landeskirche optimal zu entwickeln, ihre Strukturen sowie die Arbeitsbedingungen für die Kantorinnen und Kantoren so günstig wie möglich zu gestalten. Zu ihnen bewahrte er engen Kontakt, wusste über ihre Situation, ihre Freuden und Probleme bestens Bescheid und vertrat ihre Interessen energisch und erfolgreich. Er verlangte viel von sich selbst und von anderen. In seinem Wesen verband sich Strenge mit persönlicher Anteilnahme und Fürsorge. Seine Personalführung war durch Klugheit, Weitblick und Menschenkenntnis gekennzeichnet; besonderes Augenmerk widmete er der kirchenmusikalischen Ausbildung junger Menschen.

Unter den schwierigen Bedingungen eines atheistisch geprägten Staates folgte Schwinger seiner Vision einer lebendigen, ausstrahlenden Kirchenmusik und wusste sie mit hohem persönlichem Engagement, großem diplomatischen Geschick sowie nie versiegendem Humor umzusetzen. Seine Ehefrau Elisabeth war ihm dabei eine unermüdliche, wichtige Partnerin und Helferin. Kirchenmusikalische Großereignisse wie die Landeskirchenmusiktage 1982 und 1991 trugen seine Handschrift. Die Planung und Durchführung des kirchlichen Bachfestes 1985 in Leipzig (als Gegenüber zum staatlichen Bachfest, das kirchliche Kräfte völlig ausblendete) war eine großartige Leistung. Unter seiner Leitung erlebte die sächsische Kirchenmusik eine Blütezeit.

Hans-Joachim Schwinger war weit über die Grenzen Sachsens hinaus bekannt. Er arbeitete maßgeblich an der Entwicklung des jetzt gültigen Evangelischen Gesangbuchs mit und wurde im Kreise seiner Kollegen hoch geschätzt.

Viele Sängerinnen und Sänger, Kollegen und Weggefährten trauern um Hans-Joachim Schwinger. Sie denken an ihn in großer Dankbarkeit und werden ihm ein treues, ehrendes Andenken bewahren.

Christfried Brödel